Faszination Faszien
Divo Müller ist Körpertherapeutin, Heilpraktikerin und Vorreiterin moderner Bewegungsprogramme. Sie hat Continuum Movement in Europa bekannt gemacht und zusammen mit namhaften Bewegungswissenschaftlern ein eigenes Konzept unter dem Namen Bodybliss entwickelt. Ihr neuestes Projekt ist Fascial Fitness. Dieses wird unter der Führung ihres Ehemanns, Robert Schleip, basierend auf seiner Grundlagenforschung, in Zusammenarbeit mit internationalen Coaches und Körpertherapeuten entwickelt. Anita Knöller sprach mit Divo Müller über das neue Bewegungsprogramm Fascial Fitness.
Welche Historie steckt hinter dem Faszien-Training?
Divo Müller: Die Entwicklung des Faszien-Trainings geht auf die Verdienste meines Mannes zurück. Er ist Rolfer, Rolfing- und Feldenkrais-Lehrer und hat sich seit vielen Jahren mit dem Thema auseinandergesetzt. Das Rolfing ist eine sehr erfolgreiche Methode, aber die Erklärungsmodelle, auf welche Weise diese Methode wirkt, waren bislang sehr dürftig und in der Konsequenz nicht logisch.
Er hat dann als Spätberufener auf dem Gebiet der Bindegewebeforschung begonnen und mit 50 seine Doktorarbeit zum Thema Kontraktilität der Faszien geschrieben. Der Start war nicht einfach, da die Faszien zu dieser Zeit alles andere als ‚en vogue’ waren und nur unter großem Engagement eine Universität und ein Doktorvater bereit waren, sich diesem Außenseiter und seinem exotischem Thema zuzuwenden.
Inzwischen hat sich da eine Menge getan. An der Universität in Ulm gibt es eine eigene Abteilung: die „Fascia Research Group“. Diese ist international mit den führenden Faszienforschern vernetzt und pflegt gleichermaßen Kontakt zu bekannten Physio-Therapeuten und Sportmedizinern, die seit Jahren erfolgreich über myofasziale Ansätze therapieren.
Besonders wichtig für das ‚Aschenputtelorgan’ Faszien, das mittlerweile ins Rampenlicht der Forschung katapultiert wurde, waren die internationalen Faszien Kongresse (2007 Harvard, 2009 Amsterdam, 2011 Vancouver). Hier wurde außerdem ein Dialog in Gang gesetzt zwischen ernstzunehmender Wissenschaft und den praktischen Anwendern. Dieser wertvolle Austausch wird dadurch gefördert, dass an der Ulmer Universität ein- bis zweimal Mal jährlich hochkarätige, internationale Konferenzen zu dieser Thematik stattfinden.
Neu ist nun, dass wir in unserem Fascial Fitness Team die Erkenntnisse der Faszienforschung in einen Bewegungsansatz umsetzen und der Frage nachgehen, wie wir denn speziell das muskuläre Bindewebe, also die Faszien trainieren.
Welche Erkenntnisse wurden aus den Forschungen gezogen?
Divo Müller: Die Faszien-Forschung wird inzwischen von einigen bedeutenden Wissenschaftlern vorangetrieben. Wichtige Erkenntnisse belegen, dass die Faszien bei jeder Bewegung beteiligt sind. So spielen sie eine bedeutende Rolle bei elastisch federnden Bewegungen und bei der Kraftübertragung und bilden vermutlich sogar unser größtes Sinnesorgan. Sie sind also daran beteiligt, wie wohl wir uns in unserem Körper fühlen und ob wir leichtfüßig, geschmeidig oder eher schwerfällig daherkommen.
Divo Müller ist Vorreiterin moderner Bewegungsprogramme
Es ist inzwischen belegt, dass federnde Bewegungen beim Gehen, Laufen oder Tanzen, weniger eine muskuläre Angelegenheit sind, sondern im Wesentlichen durch die beeindruckende Speicherkapazität der Achillessehne ausgeführt werden. Die elastischen Sehnen agieren wie eine Art Sprungfeder, sorgen für eine ökonomische Bewegung, bei der Muskulatur kaum zum Einsatz kommt. Sind die Sehnen kräftig und elastisch, also intakt, dann wird darüber eine enorme Effizienz in Form von Lauf- oder Sprungleistungen erreicht.
Unser Wunsch ist es, dass wir die klassische Triade der Sport- und Bewegungswissenschaft, also das Training von kardio-vaskulärer Kondition, der muskulären Kraft und der neuromuskulären Bewegungskoordination, erweitern. Die genannten Aspekte sind wichtig und sollten nach wie vor trainiert werden. Wir hoffen durch das Faszien-Training und durch das Bekanntwerden der faszinierenden Forschungsergebnisse dazu beitragen zu können, dass ein bislang vernachlässigter Aspekt, nämlich das Training des Bindegewebes, in bestehende Bewegungsansätze integriert wird.
Sind die Ergebnisse mess- oder darstellbar?
Divo Müller: Das Verständnis der Bedeutung der Faszien ist von zwei Problemen begleitet. Schauen wir uns die Faszien in der medizinischen Anatomie an, so sind diese, insbesondere bei lange konservierten Körpern, nicht besonders attraktiv und haben mit dem lebendigen Körper wenig gemeinsam. Sehen wir uns zum Beispiel das Retinaculum an, also die Fessel, so ist diese in den anatomischen Abbildungen als ein deutlich weißes Band dargestellt. Im lebendigen Körper ist diese Struktur in der Tat vorhanden, allerdings unsichtbar. Erst durch die Disposition an der Luft, wird das Kollagengewebe durch den Wasserverlust weiß und sichtbar.
Das heißt, wir haben eine fehlerhafte Vorstellung von den Geweben, die wir dann auf den lebendigen Körper übertragen. Hierdurch werden wir in unseren Schlussfolgerungen leicht in die Irre geführt. Wir sollten uns bewusst machen, dass ein konservierter Kadaver und ein lebendiger Körper so viel gemein haben, wie eine Rosine mit einer frischen, saftigen Weintraube.
Zum anderen gab es bislang kaum Geräte, die die Faszien genau abbilden. Erst mit den modernen, hochauflösenden Ultraschallgeräten wird dies nun möglich. Daraus werden erhellende Erkenntnisse gewonnen, was die Bedeutung von Faszien in Bewegung und auch als Schmerzgeneratoren angeht. Dies ist beispielsweise für die Rückenschmerzforschung relevant.
Ein Gerät das in Finnland entwickelt wurde, das Myoton, misst die Steifigkeit der Gewebe und wird in unterschiedlichen Forschungen zum Nachweis der Wirksamkeit von faszien-orientierten Behandlungen verwendet. Wir hoffen, dass wir darüber längerfristig auch eine Wirksamkeitsstudie für das Faszien-Training durchführen können.
Die oben genannten Forschungsergebnisse zu den elastischen Federungen wurden durch Ultraschalluntersuchungen ermittelt. Yasuo Kawakami, ein international renommierter japanischer Forscher, hat nachgewiesen, dass die Sarkomere, also die muskulären Anteile, sich bei den federnden Bewegungen im Grunde nicht beteiligen. Aber er konnte nachweisen, dass sich die faszialen Elemente, allen voran die Achillessehne, wie eine elastische Feder, verkürzen und verlängern.
Wenn Faszien-Training die Elastizität des Bindegewebes erhält, ist es dann nicht auch eine Methode zur Verlangsamung des Alterungsprozesses, also ein Anti-Aging Programm?
Divo Müller: Das ist eine spannende Frage und einer meiner aktuellen Themenbereiche. Hier geht es einmal um die Bedeutung von Wasser, also der Tatsache, dass die Bindegewebe einen hohen Wasseranteil (68%) haben und davon die Geschmeidigkeit und Gleitfähigkeit der Strukturen abhängt. Die fließende Dynamik, also der Austausch, und die Hydration des kollagenen Fasernetzes sind essentiell für dessen Gesundheit. Ansonsten verfilzen und verkleben diese und damit ist ein reibungsloser Bewegungsablauf nicht mehr möglich. Die Frage, ob wir jugendlich-federnd oder steif und schwerfällig die Treppe hochsteigen, wird durchaus auf der Ebene des Bindegewebes entschieden.
Im Fascial Fitness verfolgen wir dabei zwei Ziele, einmal das Bindegewebe resilient, also belastbar zu trainieren. Das erreichen wir unter anderem über federnde Bewegungen in unterschiedlichen Positionen unter Einsatz von Gewichten. Zudem setzen wir eine Bandbreite an anfordernden Dehnreizen. Hierbei sollen vor allem die Myofibroblasten, also die Bindegewebszellen angeregt werden, die Fasernetze zu erneuern und gesundes Kollagen anzulegen. Außerdem stimulieren wir gezielt die Rehydration der kollagenen Gewebe, also das Erneuern der Flüssigkeitsprozesse, durch den Einsatz der Faszienrolle, als eine wirkungsvolle Eigenbehandlung.
Derzeit arbeite ich an einem speziellen Übungsprogramm, das die Körperkontur strafft und tonisiert. Muskeln sind eher wie Sirup und werden von einer bindegewebigen Hülle, dem Epimysium, zusammengehalten. Ist die Hülle straff aufgespannt, dann hat der Muskel Kontur. Erschlafft die Fasziehülle, gehen wir sprichwörtlich ‚aus dem Leim’, passend zum Faszienthema, denn das lateinische Wort ‚collagere’ bedeutet leimen und binden. Die gute Nachricht: Mit einem adäquaten Training können wir dem Erschlaffen aktiv entgegenwirken und damit die biologische Uhr immerhin bis zu zwei Jahrzehnten zurückdrehen. Das finde ich sehr motivierend.
Welche Bedeutung kommt den Faszien beim klassischen Training zu?
Divo Müller: Wir gehen davon aus, dass in absehbarer Zeit die ernstzunehmenden Bewegungsansätze das Training des Bindegewebes in ihr Training aufnehmen. Ein kräftig belastbares Bindegewebe trägt entscheidend zur Verletzungsprophylaxe bei. Denn die meisten Sportverletzungen sind Verletzungen und Überlastungsschäden der Kollagenfasern.
Für den Profisportler ist dieser Aspekt von zentraler Bedeutung. Da kann eine Karriere schnell zu Ende sein, wenn ein Leistungssportler verletzungsbedingt ausfällt. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Heilung von Kollagen lange Zeit benötigt und dann meist eine Schwachstelle zurückbleibt. Das hat mit der Natur von Kollagen zu tun, da es sich nicht mehr so geschmeidig aufbaut und zu Verdickungen und Verklebungen neigt. Muskeln lassen sich in drei Monaten zu neuem Volumen aufpumpen, Bindegewebe benötigt zur Heilung ein halbes Jahr und ein bis zwei Jahre, um sich grundlegend zu erneuern. Daher sehen wir den größten Beitrag unseres Trainingsprogrammes in der Prävention. Das gilt gleichermaßen für den Leistungssport, wie im Gesundheitsbereich. Wer sein Bindegewebe pflegt und geduldig aufbaut, zieht einen nachhaltigen, spürbaren und sichtbaren Nutzen daraus.
Wie kann das Faszien-Training speziell im Fitness-Studio integriert werden?
Divo Müller: Hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Faszien-Training kann im Einzelcoaching und sportartenspezifisch integriert werden. Es eignet sich als eigenständige Group Fitness-Stunde und kann mit dem richtigen ‚Know-how’ auch an stationären Geräten eingesetzt werden. Im Functional Training bietet sich unter anderem das Kettlebell-Training mit seinen schwungvollen Übungen an, die sich leicht faszial ausbauen lassen. Und federnde Sprungelemente lassen sich ins Aufwärmtraining integrieren.
Wunderbar geeignet sind ganzheitliche Bewegungsprogramme wie Yoga und Pilates, da diese Trainingsmethoden bereits in der Ausrichtung von Vorspannung und der Beteiligung von langen, myofaszialen Ketten, arbeiten. Wenn hier noch einige Elemente aus den Faszien-Prinzipien hinzukommen, erhalten diese Kursstunden für die Teilnehmer ein bedeutendes Extra obendrauf.
Müssen die Trainer zum Unterrichten von Fascial Fitness bestimmte Voraussetzungen mitbringen?
Divo Müller: Um bei uns die Aus- oder Weiterbildungen absolvieren zu können, benötigen die Trainer eine Grundausbildung von 300 Stunden. Sie sollten entweder ein anerkanntes Körpertherapie-Training nachweisen oder eine fundierte Pilates-Ausbildung absolviert haben, Physiotherapeut sein oder eine Zusatzqualifikation in Form einer Trainerlizenz haben.
Was ist für Sie persönlich das Bedeutsame am Faszien-Training?
Divo Müller: Faszien-Training ist für mich in dem Sinne faszinierend, da es eine kluge Kombination von anfordernden bis athletischen Bewegungen bietet in Verbindung mit eleganter Geschmeidigkeit und Verfeinerung. Es geht nicht einzig darum, die Bedeutung des kollagenen Gewebes in Bezug auf den Sport und die Leistungssteigerung zu verstehen. Aus diesem Grund gefällt mir die Metapher des ‚Tiger Body’, das Qualitäten von Kraft, Dynamik, aber auch Eleganz und Geschmeidigkeit vereint.
Für mich gehören diese Aspekte zusammen und werden über die Qualitäten des Kollagengewebes trainierbar. Ein wesentlicher Aspekt besteht darin, dass es sich dabei um ein lebendiges Organ handelt, das für unseren Körpersinn zuständig ist, die Propriozeption. Die kollagenen Gewebe sind reichhaltig ausgestattet mit sensorischen Nerven und Dehnrezeptoren, also Wahrnehmungsfühlern. Überraschend ist dabei womöglich die Erkenntnis, dass es sich um sechsmal mehr Mechanorezeptoren handelt, als im Muskel.
Um dieser biologischen Ausstattung nach propriozeptiver Stimulation nachzukommen, wird es meiner Meinung nach Zeit, dass wir uns umorientieren von stur wiederholenden Übungen und mechanisch ausgeführten Abläufen. Und vielmehr eine kreative Umgebung schaffen, in der motorische, als auch sensorische Fähigkeiten gefordert und gefördert werden. Hier sind Abwechslung, Richtungsänderungen und Anforderung in der Raumorientierung wesentlich. Deswegen nehmen wir die Teilnehmer der Kurse gerne auf Spielplätze mit oder schaffen in meinem Studio dschungelähnliche Anforderungen. So erreichen wir den gesamten ‚range of motion’ der Gelenke, schwingen und hangeln uns affenähnlich durchs Fasziennetz. Mit großem Trainingseffekt und einer Menge an belebendem Spaß.
Vielen Dank Frau Müller für das sehr interessante und aufschlussreiche Gespräch.
Weitere Informationen zum Thema und Kontakt:
www.fascial-fitness.de
Faszientraining mit Gaby Fastner: